Die Theorie des „False Memory Syndrome“ wird erschreckenderweise auch bei uns in Deutschland zunehmend populärer. Sie soll unter anderem in Scheidungs- und Trennungs-Auseinandersetzungen die Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs entkräften, die im Zusammenhang mit Umgangs- und Sorgerechtsregelungen als Waffe gebraucht werden. Die Leidtragenden sind allerdings nicht die jeweiligen Gegner im Scheidungskrieg, sondern in besonderem Maße die tatsächlichen Opfer sexuellen Missbrauchs, seien sie nun erwachsen oder noch Kinder.
Dem Begriff „False Memory Syndrome“ liegt die Theorie zugrunde, dass Anschuldigungen von Überlebenden sexuellen Missbrauchs auf sogenannten „falschen Erinnerungen“ fußen, die den Betreffenden von Psychotherapeuten angeblich suggestiv eingeredet worden seien.
Geprägt wurde der Begriff von dem amerikanischen Mathematiker Peter Freyd und seiner Frau Pamela. Das Paar sah sich dem Vorwurf seiner Tochter Jennifer ausgesetzt, der Vater habe sie als Kind sexuell missbraucht (weitere Familienmitglieder untermauerten Jennifers Vorwurf). In der Folge gründeten die Freyds 1992 die „False Memory Syndrome Foundation“. Damit boten sie des sexuellen Missbrauchs beschuldigten Eltern eine Plattform. Die Freyds konstatierten eine Ausbreitung des „False Memory Syndrome“ von epidemischem Ausmaß und schrieben die Schuld vor allem den Therapien zu, in denen sich die Opfer gerade befanden. Insbesondere erst spät wiederkehrende Erinnerungen seien höchst fragwürdig, und es sei überaus leicht, eine falsche Erinnerung zu erzeugen, auch wenn ein entsprechender Vorfall niemals stattgefunden habe. Menschen, die sich nach langer Zeit erst wieder erinnerten, seien höchst beeinflussbar. So weit die Theorie der Freyds.
Ganz besonders die Bezeichnung „Syndrom“ erweckt in diesem Zusammenhang den Anschein, es handele sich beim „False Memory Syndrome“ um eine diagnostizierbare Krankheit oder doch zumindest um eine Ansammlung von Symptomen, aber weder die „False Memory Syndrome Foundation“ noch sonst jemand machte sich bislang die Mühe, genaue Kriterien zur Feststellung dieses „Syndroms“ festzulegen. Eine wissenschaftliche Untermauerung der Freydschen Behauptungen steht bis heute aus.
Hierzulande berufen sich Vertreter der These im Internet hauptsächlich auf die Arbeiten der amerikanischen Psychologie-Professorin Elizabeth Loftus, die in einzelnen Studien nachgewiesen hat, inwieweit sich Erinnerungen tatsächlich manipulieren lassen (beispielsweise gelang es Loftus in dem bekannt gewordenen „lost in the mall“-Experiment, 6 von 24 Probanden glauben zu machen, sie seien in ihrer Kindheit tatsächlich einmal in einem Shopping-Center verlorengegangen, obwohl das nicht der Fall war). Außer Acht gelassen wird dabei jedoch leider allzu häufig, dass Loftus' Studienergebnisse nicht zu einer Ableitung generalisierender Theorien über den Wahrheitsgehalt von Erinnerungen an sexuellen Missbrauch geeignet sind. Schon allein die Tatsache, dass Loftus' Studien unter Laborbedingungen stattfanden und aus ethischen Gründen nicht auch nur annähernd die traumatisierende Qualität einer realen Missbrauchserfahrung aufweisen dürften, diqualifiziert sie als stichhaltigen Beweis für die Existenz des „False Memory Syndroms“.
Die „False Memory Syndrome Foundation“ selbst bezieht sich zudem zur Untermauerung des „Syndroms“ vor allem auf die Berichte betroffener Eltern, die sich bei der Stiftung meldeten bzw. sich dorthin um Hilfe wandten, nachdem gegen einen oder beide der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs angebracht wurde. Der wissenschaftliche Charakter solcher Aussagen darf selbstverständlich zu Recht bezweifelt werden. Darüber hinaus macht es die involvierten Eltern nicht unbedingt glaubwürdig, dass die Foundation keinerlei Bemühungen zeigte, deren tatsächliche Schuld oder Unschuld zu überprüfen.
Es ist nachgewiesen, dass Opfer sexuellen Missbrauchs in umfangreichem Maße ihre Erinnerungen an das Geschehnis selbst und an damit zusammenhängende Ereignisse vergessen bzw. verdrängen. Dies ist nicht zwingend der Fall, aber Erinnerungsverluste, Amnesien und Dissoziationen sind im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch allgemein gut belegt. Oftmals kommen Erinnerungen an sexuelle Gewalt erst nach Jahren oder Jahrzehnten ans Licht.
Diese nach langer Zeit auftauchenden Erinnerungen werden nun aber massivst von den Verfechtern des „False Memory Syndrome“ in Zweifel gezogen. Die Behauptung wird in den Raum gestellt, dass zurückgekehrte Erinnerungen nicht denselben Wahrheitsgehalt und Stellenwert hätten wie konstante Erinnerungen. Die „False Memory Syndrome Foundation“ führt allerdings keinerlei Belege für die „mindere Qualität“ solch wiedergekehrter Erinnerungen an, und es ist auch nie in unabhängigen Studien belegt worden, dass solche Erinnerungen mehr oder weniger stichhaltig sind als andere.
Auch gibt es keine Beweise dafür, dass wiedererlangte Erinnerungen auf den Suggestionen von Therapeuten beruhen – Patienten gewannen sowohl im Rahmen von Therapien als auch vollkommen unabhängig davon ihre Erinnerungen zurück.
Komplexe, traumatisierende Erinnerungen wie die an einen sexuellen Missbrauch lassen sich nicht einfach in ein Patienten-Gehirn implantieren. Es ist erheblich wahrscheinlicher, dass durch autoritären Druck innerhalb von Familien (auch erwachsenen) Kindern die Erinnerung an ein solch schwerwiegendes Trauma ausgeredet wird. Nicht ohne Grund leiden missbrauchte Kinder unter anderem deshalb so sehr, weil sie ihrer eigenen Wahrnehmung nicht mehr trauen können. Was nicht sein darf, kann in den Familien auch nicht sein. Selbst, wenn die Erinnerungen konstant vorhanden waren, vergeht oft eine lange Zeit, bis ein/e Überlebende/r es wagt, sich darüber zu äußern. Zu groß sind immer noch die familiären und gesellschaftlichen Repressalien.
Das „False Memory Syndrome“ ist ein Konstrukt zur Entlastung des Missbrauchs bezichtigter Menschen, ob sie nun tatsächlich schuldig sind oder nicht. Zu diesem Zweck wurde es konzipiert, und so erklärt sich auch, dass in die Nähe der „False Memory Syndrome Foundation“ zunehmend Pädophile rücken, die dort im Prinzip einen Freibrief zur Auslebung ihrer sexuellen Vorstellungen ausgestellt bekommen. Das „False Memory Syndrome“ ist keine anerkannte Krankheit, kein wissenschaftlich belegtes Phänomen, es gibt dafür keine Diagnose-Kategorie.
Es mag durchaus zutreffen, dass so manche Beschuldigung im Bezug auf sexuellen Missbrauch nicht haltbar ist und der mutmaßliche Täter wirklich nichts getan hat. Ungerechtfertigte Beschuldigungen gibt es in allen Bereichen der Kriminalität, so auch in diesem, und falsche Verurteilungen zu unterbinden ist Sache der Justiz.
Die Gewichtung stellt sich allerdings für die Vertreter der „False Memory“-Theorie etwas anders dar:
Ralph Underwager, Gründungsmitglied der „False Memory Syndrome Foundation“, äußerte sich 1985 in einem Interview:
„(It is) more desireable that a thousand children in abuse situations are not discovered than for one innocent person to be convicted wrongly.“ („Es ist erstrebenswerter, dass tausend Kinder in Missbrauchssituationen unentdeckt bleiben, als dass eine einzige unschuldige Person fälschlicherweise verurteilt wird!“ - zitiert nach Dallam, Quellenangabe s.u.).
Derselbe Ralph Underwager gab auch der Pädophilen-Zeitschrift „Paidika: The Journal of Paedophilia" später ein höchst umstrittenes Interview.
Die große Präsenz der „False Memory Syndrome Foundation“ in den amerikanischen Medien täuscht vor, dass es das Phänomen „False Memory Syndrome“ tatsächlich gibt und dass es klinisch stichhaltig ist. Das Konstrukt dient aber lediglich der Unterminierung der Glaubwürdigkeit von Opfern und dem Schutz der Täter. Es täuscht die Öffentlichkeit zudem über den Charakter von Psychotherapeuten, als deren einziges Ziel es dargestellt wird, ihren Patienten traumatische Erlebnisse einreden zu wollen. Die Stiftung täuscht außerdem vor, erheblich mehr Mitglieder zu haben als tatsächlich der Fall ist. Damit bläht sie die Brisanz des „falsche Erinnerungen“-Phänomens enorm auf und vermittelt so ein falsches Bild.
Dramatisch an dieser Entwicklung ist die zunehmende Popularität der „False Memory“-Theorie. Kritiklos wird hierzulande übernommen, was sich ursprünglich ein mit einem Missbrauchsvorwurf konfrontiertes Elternpaar als Entlastungsstrategie zurechtgestrickt hatte.
Die Opfer muss das in die Verzweiflung treiben. Der Umgang mit einem schambesetzten, schmerzhaften Thema wie dem eigenen sexuellen Missbrauch ist schon schwer genug, ganz besonders dann, wenn er in der Familie stattgefunden hat. Darüber zu sprechen ist ein Tabu, die Realität wird geleugnet, das innerlich marode Familiensystem soll um jeden Preis aufrecht erhalten werden. Dann taucht eine Idee auf, der schnell auch noch das medizinisch klingende Etikett „Syndrom“ aufgeklebt wird und die sich hervorragend als Methode eignet, das Opfer in seinem ganzen Sein, mitsamt allen seinen Gefühlen, Wahrnehmungen und Erlebnissen in Frage zu stellen. Menschenverachtender geht es kaum.
(Quelle: Dallam, S.J., „Crisis or Creation? A Systematic Examination of „False Memory Syndrome““, http://www.leadershipcouncil.org/1/res/dallam/6.html, abgerufen am 07.06.2010.
Im Anhang an Dallams Text findet sich eine ausführliche Literaturliste.)
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