4. Juni 2010

Zerrissene Kinder

Ein Kind kann sich nicht aussuchen, in welche Umstände es hineingeboren wird. Manche Eltern sind schon von Beginn an nicht wirklich zusammen. Aber viele wählen dennoch die Standard-Variante des Wegs zum Kind: Verliebt, verlobt, verheiratet. Das Kind schließlich ist die finale Krönung des Familienglücks. So ist es geplant, so funktioniert es auch in vielen Fällen. Dann sind Eltern Menschen wie alle anderen auch: Sie sind fehlbar, gestresst, genervt, aber auch liebe- und verantwortungsvoll, achtsam und präsent. Sie tun für ihre Kinder, was sie können.

Aber was geschieht, wenn es anders kommt? Wenn die Idylle, als die man die Partnerschaft und Ehe in ihrer Anfangsphase noch erlebt hat, sich trotz aller Vorsätze in Wut, Beschimpfungen, Respektlosigkeiten, Betrügereien oder gar Gewalt auflöst?


Die zwei, die sich so fest vorgenommen hatten, „für immer“ zusammen zu bleiben, sind plötzlich zwei zutiefst verletzte Menschen. Sie müssen mit geplatzten Träumen und gekränkten Seelen zurechtkommen. Nach einer partnerschaftlichen Enttäuschung einander einfach den Rücken zuzudrehen und auseinander zu gehen hört sich so leicht an, gelingt aber wohl den wenigsten. Zunächst einmal sind die Wunden offen, und es gibt Menschen, die ein großes Talent dafür entwickeln, sie auch offen zu halten. Die Trennung von Tisch und Bett, die Trennung der Wohnung, sogar eine Scheidung vermag die ineinander verstrickten, voneinander verletzten Partner nicht wirklich auseinander zu bringen. Plötzlich fliegen Nachrichten hin und her, überbracht von Dritten. Es wird gedroht und beschimpft, verunglimpft und beschuldigt. Gerüchte werden gestreut. Der gesunde Menschenverstand des anderen wird angezweifelt, seine zwischenmenschlichen Kompetenzen in Abrede gestellt. Das allein ist schon ein Zustand, der schwierig und kräftezehrend ist. Er kann zwischen zwei Menschen bisweilen zu einem regelrechten Krieg ausarten.

Zu groß, zu gravierend sind manchmal die erlittenen Demütigungen, als dass die früheren Partner oder Eheleute aufrecht auseinandergehen könnten. Den meisten liegt außerdem leider in einer solchen Situation auch immer noch die durchaus vorhandene Möglichkeit fern, Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Man stelle sich zwischen all dem ein Kind vor. Es ist existenziell angewiesen auf die Verlässlichkeit seiner Eltern, auf deren verantwortungsvolle Präsenz, auf die Konstanz und Berechenbarkeit ihrer Reden und Taten. Es ist vollständig abhängig von den Menschen, die ihm das Leben geschenkt haben, und das spürt es, auch wenn es das nicht benennen kann – klein, wie es ist.

Das Kind steht zwischen diesen Fronten, mitten in der Eskalation der Gefühle. Nicht allein, dass es die Situation überhaupt nicht überblicken kann, weil oberhalb seiner Augenhöhe gekämpft wird. Nicht allein, dass die wichtigsten Menschen in seinem Leben sich plötzlich gegenseitig herabwürdigen, anschreien oder anschweigen und damit seinen Halt im Leben in Frage stellen. Nicht allein, dass es eine Spannung erlebt, die es auf sich beziehen muss, weil ihm niemand sagt, dass es an all dem keine Schuld trägt. Das alles stellt für sich genommen schon eine große Last da.

Kommt es dann tatsächlich zur Trennung oder Scheidung, dann gehen viele Eltern noch einen Schritt weiter. Das Kind, ohnehin schon zwangsläufig überfordert von der neuen, unberechenbaren Lage zwischen den Eltern, wird jetzt zum Gegenstand.

Die kleine Person, die so hilflos inmitten des Geschehens steht, wird benutzt.

Das beginnt beim vordergründig harmlos wirkenden „Sag Deinem Vater, er soll...“, das aus der Kommunikationsverweigerung der Eltern resultiert, bis hin zum handfesten Sorgerechtsstreit. Dazwischen liegt eine ganze Bandbreite von haarsträubenden Verhaltensweisen der Eltern: Das Kind wird zum Ersatzpartner gemacht oder zum Kummerkasten, zum Laufburschen, zum Instrument des Hasses, zum Druckmittel. Kommt es zum Kampf um Sorge- oder Umgangsrecht, dann wird der ursprüngliche Ehestreit manches Mal verlagert auf den Rücken des Kindes. Dann ist es plötzlich für die zerstrittenen Partner wichtig, darzustellen, wer der bessere Elternteil ist, um auch in diesem Bereich die eigene moralische Überlegenheit gegenüber dem anderen zu demonstrieren. Es wird ausgefochten, wem das Kind „gehört“, wer ein Recht auf es hat und unter welchen Bedingungen. Das Kind wird zu dem Zweck manipuliert, eine Aussage zu treffen, wen es mehr liebt. Je nachdem, welcher Elternteil in diesem Spiel die geschickteren Hände hat, ist das Kind schließlich dem anderen Elternteil mehr oder weniger entfremdet und hat damit neben allem anderen auch noch den Verlust eines Vorbildes zu verkraften.

Der Begriff des Kindeswohls erfährt leider immer noch in diesem Kontext kaum eine Würdigung. Die Verstrickung der beiden sich bekämpfenden Elternteile ist zu groß, als dass der Blick darauf gerichtet werden könnte, was dem Kind zu seinem Wohl gereicht. Zunächst streiten die Beteiligten lieber noch darüber, wer dem Kind gut tut. Das ist natürlich in den Augen der meisten die eigene Person, nicht das Gegenüber.

Unter den Tisch fällt bei all dem Gezerre die Tatsache, dass ein Kind beide Eltern braucht. Es mag sein, dass es den Zerstrittenen sauer aufstößt, aber auch und besonders im Falle einer Trennung und der damit einhergehenden Belastungssituation für das Kind sind sie als Elternpaar gefragt. Vom Moment der Zeugung an waren diese beiden Personen Eltern dieses Kindes, und sie werden es über ihren eigenen Tod hinaus bleiben. Dieser Zustand der Elternschaft ist irreversibel, und er ist untrennbar mit Verantwortung verbunden. Ganz unabhängig davon, wer an welchen Verfehlungen in der Ehe mehr und wer weniger Schuld trägt, ist das Kind auf liebevolle, ihm zugewandte Eltern angewiesen. Diesem Umstand wird in Scheidungs- und Sorgerechtskämpfen leider viel zu wenig Rechnung getragen. Zu sehr geht es noch immer um Besitzansprüche und ums Rechthaben. Zu leiden haben unter den Folgen der Grabenkämpfe die Kinder – erwiesenermaßen bis hinein ins Erwachsenenalter.

Das Verhalten der Eltern in solchen Konfliktfällen prägt das Männer- und Frauenbild der Kinder ebenso wie die Einschätzung ihres eigenen Stellenwerts als Persönlichkeit, ihr Verhalten in späteren eigenen Beziehungen im Erwachsenenalter und die generelle Auffassung von zwischenmenschlichem Miteinander. Unter diesem Aspekt betrachtet kann die Verantwortung der Eltern wohl kaum hoch genug eingeschätzt werden.

Ein Kind kann sich nicht aussuchen, in welche Umstände es hineingeboren wird. Es hat keine Chance, sich aus belastenden Situationen zurückzuziehen. Es kann aus seiner Abhängigkeit von den Eltern nicht heraustreten, und es ist nicht in der Lage, bewusst zu selektieren, was ihm schadet und was nicht. Es liegt in den Händen der Eltern, genügend Achtsamkeit für die Persönlichkeit ihrer Kinder aufzubringen und um ihretwillen in ihrer Eigenschaft als Elternpaar verlässlich, liebe- und respektvoll zu bleiben, ungeachtet aller Differenzen in der Paarbeziehung. Dabei ist niemand perfekt. Verantwortlichkeit kann in diesem Fall also auch heißen, Hilfe von außen zur Überwindung der Meinungsverschiedenheiten in Anspruch zu nehmen. Eine Scheidung mag manches Mal unvermeidlich sein, aber es liegt in den Händen der erwachsenen Beteiligten, ob die Folgen zu einem Trauma für das Kind werden oder nicht.

4 Kommentare:

  1. Ich habe das Gefühl das endlich einmal jemand die Worte gefunden hat die mir (als Scheidungskind) fehlten für das was man empfindet wenn Eltern einen zerreißen...Das Tabuthema der Gesellschaft findet leider viel zu selten jemanden der die richtigen Worte dafür findet!

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  2. Leider komme ich erst heute dazu, Ihren Kommentar zu veröffentlichen. Haben Sie herzlichen Dank dafür. Ich glaube, es ist wichtig zu wissen, dass man nicht allein dasteht und dass über Gefühle auch gesprochen wird. Schön, dass Sie diesen Blog gefunden und mit Ihrem Kommentar bereichert haben.

    Brenda

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  3. Guter Artikel der die Wirklichkeit auf den Punkt trifft. In meiner täglichen Arbeit begegnen mir die Aspekte, die sie hier beschreiben immer wieder. Eltern haben aus meiner Sicht die Pflicht, wenn schon ihre Beziehung nicht funktioniert hat, zumindest eine funktionierende Trennung zu gestalten und die Kinder so vor schlimmerem zu bewahren.

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  4. ich bin jetzt 46 wird. und ich leide bis heute darunter als ersatzpartner missbraucht worden zu sein. ich habe mich im leben immer dafür verantwortlich gefühlt dass es den menschen um mich herum gut geht. helferrolle pur. in diese rolle wurde ich von meiner kranken mutter reingedrillt. ich musste immer für sie da sein. sie auf ämter begleiten. geld zuhause abgeben. sie in den unrlaub kutschieren. wenn ich einen partner hatte, dann hat sie schnell verusucht sich diesen zueigen zu machen. heute stehe ich alleine da. im jo hatte ich natürlich auch die "helferrolle". bis ich an burnout zusammengebrochen bin. für mich war es normal, dass ich von meiner mutter nichts erwarten konnte. weder finanziell noch sonst. sie war immer die arme, die schwache, die liebe. und ich das tolle starke kind. ich war sehr oft verzweifelt, wusste oft nicht wie ich dinge hinbekommen oder finanzieren soll. ich wurde zum workaholic. und immer brav zuhause abgeben. heute bin ich meinem damaligen chef fast dankbar, dass ich (im rahmen einer firemübernahme) eine kündigung erhalten habe. danach kam der zusammenbruch. dann meine analyse. mit therapeutin, die zu mir nur sagte: sie sind der packesel ihrer mutter.
    ja komisch, meiner mutter ging es blendend. und ich wurde immer unglücklicher. heute bin ich zutiefst traurig, dass ich meine kostbare energie nicht in ein eigenes familienleben investiert habe. die mutter sass mir immer wie ein presser mit ihren wünschen und forderungen im nacken. mit ihren vermeintlichen besitzansprüchen auf "ihr kind". jeder partner wusste intuitiv, dass er nicht nur mich sondern auch meine klammernde mutter hätte mitheiraten müssen. nur ich habe es nicht kapiert. heute hasse ich diese frau. leider.

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