6. Juni 2010

Der Missbrauchsvorwurf als Waffe

Eltern, die sich in einer laufenden Trennung oder Scheidung befinden, haben es nicht leicht. An einem Punkt angekommen, an dem man sich das Scheitern einer Ehe oder Beziehung eingestehen muss, kochen die Emotionen gern hoch – ganz besonders dann, wenn es darum geht, „wer was kriegt“. Das mag durchaus noch angehen, wenn es sich um das restliche, noch nicht zerschlagene Porzellan handelt oder um den Flachbildschirm-Fernseher. Mit den Kindern sieht das etwas anders aus.

Im Kampf um die Kinder scheint so manchen sich trennenden Elternpaaren kaum ein Mittel zu schade zu sein, um den jeweils anderen als erziehungsunfähig oder schädlich fürs Kind darzustellen. Nicht davon zu sprechen, dass hier nicht wirklich im Mittelpunkt steht, bei wem es die Kinder gut haben, wo sie sich wohl fühlen und was für ihr seelisches und körperliches Wohl und ihre Entwicklung gut ist. Kinder sind nur allzu oft Streit-Gegenstand, und das ist bitter. Müttern und Vätern, die auseinandergehen, scheint es vielmehr in der Hauptsache um das Rechthaben zu gehen. Der wohlgenährte Hass auf den anderen lässt es einfach nicht zu, dem Kind den so wichtigen Umgang zu gestatten. Die eigenen Gefühle von Abscheu und Enttäuschung werden auf das Kind projiziert, anstatt dass man sich konstruktiv mit ihnen auseinandersetzt.

So liegt es für manche Mutter nah, sich mittels eines schwerwiegenden Vorwurfs des Vaters zu entledigen: Dem des sexuellen Kindesmissbrauchs.
Selbst wenn es keine Anzeichen dafür gibt, ist diese Anschuldigung nur schwer zu entkräften, wenn sie erst einmal im Raum steht. Natürlich muss es in erster Linie darum gehen, ein Kind vor sexuellen Übergriffen durch wen auch immer zu schützen, und es ist überaus wichtig, begründeten Hinweisen nachzugehen. Aber die Wirkung einer solchen Behauptung ist durchschlagend und somit auch hervorragend dazu geeignet, Väter von ihren Kindern fernzuhalten.

In diesem Zusammenhang ist dann oftmals vom „Missbrauch mit dem Missbrauch“ die Rede. Gleichgültig, wie stichhaltig die Hinweise auf einen tatsächlichen sexuellen Kindesmissbrauch schließlich sind – die Mutmaßung ist ausgesprochen und kann nicht ohne weiteres zurückgenommen werden. Das ist, unabhängig von tatsächlicher Schuld oder Unschuld, in jedem Fall schädlich für den Vater. Der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs eignet sich also zur Ausübung von Rache für erlittene emotionale Verletzungen, die in einer Scheidungs- oder Trennungssituation offenliegen. Ich bezweifle nicht, dass es Mütter gibt, die von diesem Mittel Gebrauch machen, auch wenn wirklich kein Missbrauch vorliegt.

Es ist aber beileibe nicht so, dass in diesem Kampf die Väter nun klein beigeben würden. Zum einen führen sie das Argument, mit dem Missbrauch werde Missbrauch betrieben, reichlich zu Felde, um die eigene Position zu stärken. Dabei ist es wiederum nicht von Belang, ob ihnen tatsächlich sexueller Missbrauch am eigenen Kind vorgeworfen wurde oder nicht. Es geht vielmehr darum, den Müttern „Missbrauch mit dem Missbrauch“ generalisiert vorzuwerfen, um sie unglaubwürdig zu machen, und zwar prophylaktisch. Wann immer dann eine entsprechende Beschuldigung geäußert wird, können sich die involvierten Väter darauf zurückziehen, dies geschehe nur, um sie kaltzustellen und von ihren Kindern fernzuhalten. Auf diese Weise wird ein Bild von den Müttern gezeichnet, das ihnen jegliches tatsächliche Interesse am Kindeswohl von vornherein abspricht. Insbesondere Mitglieder einschlägiger Väterverbände neigen in der jüngeren Vergangenheit dazu, Frauen allgemein als in dieser Hinsicht charakterschwach und egoistisch darzustellen.


Zum anderen kommt neuerdings auch in Mode, dass Vätervertreter die Frau bzw. Mutter als Missbrauchs-Täterin besonders in den Fokus rücken. Die Täterschaft der Frauen wird so als Gegengewicht benutzt, um das Bild vom missbrauchenden Vater oder Stiefvater zu relativieren. Unbestreitbar sind Frauen im Bezug auf sexuellen Kindesmissbrauch auch Täterinnen – eine Tatsache, die sehr lange unter den Tisch fiel, ebenso wie der Missbrauch an männlichen Kindern und Jugendlichen. Allerdings wird im Zusammenhang mit Sorge- und Umgangsrechtsdiskussionen die Täterschaft der Frauen in einem Maß überbetont, das skeptisch machen muss und für kritische Gemüter nur einen Schluss zulässt: Auch hier geht es wieder um Instrumentalisierung.

Oft wird dann auch noch das sogenannte "False Memory Syndrome" zur Entlastung des Beschuldigten herangezogen, das systematisch Erinnerungen von Opfern an einen Missbrauch zu unterminieren trachtet.

Bei all diesen Diskussionen um sexuellen Missbrauch fällt schon fast zwangsläufig ins Auge, wie wenig es um das mutmaßliche Opfer, das Kind geht. Es gibt eindeutige, überprüfbare Hinweise auf tatsächlich geschehenen sexuellen Missbrauch, die sich ein Kind nicht ausdenken kann. Die Natur psychischer Traumafolgen – und sexueller Missbrauch ist ein schwerwiegendes Trauma – ist inzwischen ausreichend erforscht und belegt. Davon unterscheiden sich deutlich die Geschichten, die manches Kind Mami oder Papi zuliebe über den „bösen“ Elternteil erzählt. Solche Geschichten lassen sich auch recht gut auf logische Mängel überprüfen.

Der Einsatz des Missbrauchsvorwurfs als Machtmittel im Kampf ums Kind ist insbesondere deshalb so perfide und verwerflich, weil er an so vielen Stellen gleichzeitig irreparablen Schaden anrichtet.

Zunächst einmal liegt der Schaden für das Kind auch dann auf der Hand, wenn niemals tatsächlich ein sexueller Missbrauch geschehen ist. Denn meiner Auffassung nach fällt es ganz eindeutig in die Kategorie des psychischen Missbrauchs, ein Kind dazu anzuhalten, in der für es ohnehin schon kritischen Lage der Trennungs- bzw. Scheidungssituation die üble Unwahrheit über einen im Grunde geliebten Elternteil zu erzählen und dieser Geschichte auch unter großem Druck durch eingehende Befragungen treu zu bleiben.

Kommt es dann in der Folge auch noch dazu, dass das Umgangsrecht mit dem beschuldigten Elternteil entzogen wird, liegt es auf der Hand, dass ein Kind in seinen Allmachtsphantasien zusätzlich möglicherweise deshalb auch noch Schuldgefühle entwickeln wird. Es wird zudem seine Wahrnehmung in Frage stellen, wenn es gesagt bekommt „Der Papi/die Mami darf nicht mehr zu Dir kommen, weil er/sie Dir böse Sachen angetan hat!“, obwohl dies faktisch überhaupt nicht der Fall war. Ähnliches gilt im Übrigen auch dann, wenn die Gegenseite in ähnliche Verhaltensmuster verfällt und ihrerseits schwere Geschütze auffährt, um die Sympathie des Kindes für die eigene Person um jeden Preis zu sichern.

Das innere Chaos eines so schamlos benutzten Kindes ist nur schwer vorstellbar.

Der Schaden für die tatsächlichen Opfer innerfamiliärer sexueller Gewalt ist ebenfalls immens, weil ihre Glaubwürdigkeit in der gesamten Debatte enorm leidet. Für ein Opfer ist es schwer, überhaupt zu reden. Allein den Mut aufzubringen und sich an jemanden um Hilfe zu wenden erfordert unermessliche Kraft. Wenn in der gesellschaftlichen Wahrnehmung durch pauschale und leichtfertige Aussagen über „Missbrauch mit dem Missbrauch“ nun die Vorstellung zementiert wird, jegliche Missbrauchsberichte seien ohnehin nur Kampfmittel in Scheidungs- und Trennungskriegen, dann verlieren die Aussagen der tatsächlichen Opfer an Gewicht.

Schwache Stimmen werden noch schwächer, bis schließlich niemand mehr hinhört.

Die Instrumentalisierung des Missbrauchsvorwurfs sowie der gesamten Missbrauchsthematik ist in meinen Augen eine Schande. Angesichts der Not der Opfer und der nach wie vor (unter anderem aktuell vom Bundeskriminalamt konstatierten) sehr hohen Dunkelziffer missbrauchter Mädchen und Jungen sollte es sich von vornherein ausnahmslos verbieten, mit diesem Thema leichtfertig und gedankenlos umzugehen und es zur Durchsetzung eigener Interessen zu benutzen.

Verletzte Menschen sind leider sehr erfinderisch, wenn es darum geht, anderen Schaden zuzufügen. Es herrscht wenig Scheu davor, auch ganz tief in die Kiste mit den schmutzigen Tricks zu greifen, um eigene Verwundung, Trauer und Schmerz zu kompensieren. Wären die Beteiligten in diesem hässlichen Schauspiel nur zu zweit, dann wäre das für sich genommen schon schlimm genug, aber zwischen den Fronten sitzt das Kind, ohne einen Fürsprecher und ohne jemanden, der sich für sein Wohl einsetzt.

Die Verletzungen, die es in diesem Geschehen erleidet, sind ein sehr hoher Preis für das unbedingte Rechthabenwollen zweier zerstrittener Menschen.

Begriffsklarstellung:
Ich verwende an dieser Stelle im Zusammenhang sowohl mit sexueller als auch psychischer Gewalt den Begriff „Missbrauch“, und zwar nur deshalb, weil sich im allgemeinen Sprachgebrauch leider noch keine bessere Bezeichnung für den Sachverhalt durchgesetzt hat. Der Begriff des „Missbrauchs“ impliziert, dass Körper und Seelen von Kindern auch bestimmungsgemäß ge-braucht werden könnten, was nicht der Fall ist. Ich betrachte jegliche Form des Missbrauchs hingegen immer als Machtmissbrauch seitens dessen, der die Gewalt an seinem Mitmenschen ausübt. Auf Begriffe wie „Kinderschänder“ möchte ich bewusst verzichten, denn Missbrauch sollte nicht als die Schande des Kindes, sondern die Schande des Täters betrachtet werden. Leider ist diese Form sexueller Gewalt in der Gesellschaft noch lange nicht geächtet genug und findet allenfalls oberflächlich in der Sensationspresse Beachtung. Für saubere, differenzierende Begrifflichkeiten und Betrachtungen ist dort leider wenig Platz.

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