1. August 2010

Wie es sich anfühlt... - Eine private Geschichte

Es ist sehr lange her, und deswegen sind meine Erinnerungen an diese Zeit sehr verschwommen. Mehr als fünfundzwanzig Jahre liegt es zurück, dass meine Eltern diese schrecklichen Streitigkeiten hatten und sich trennten. Nur für ein halbes Jahr, aber für ein Kind ist das eine halbe Ewigkeit.

Ich war vielleicht fünf, als das alles anfing, aber wie lange es zuvor in der Ehe meiner Eltern schon nicht mehr rund lief, das kann ich nur vermuten. Vielleicht ein halbes Jahr vor meinem siebten Geburtstag war mein Vater fort. Es gibt ein Foto von mir zu meiner Einschulung in diesem Sommer. Es zeigt ein blondes, verschlossen wirkendes Mädchen mit sehr langen, sehr dünnen Beinen und einer roten Schultasche auf dem Rücken. Es sitzt auf der Veranda der Oma und spielt mit der Schleife der Schultüte. Mein Vater ist auf keinem der Bilder aus dieser Zeit, und als ich diese Fotos zum ersten Mal wieder ansah, fragte ich mich, ob er zu meinem Schulanfang überhaupt da war. Erinnern kann ich mich nicht.

Meine älteste Nichte ist jetzt so alt wie ich damals, ein bisschen älter. Gestern beim schwiegerelterlichen Grillabend meinte mein Schwager, er würde wahnsinnig gern einfach mal um die ganze Welt reisen – eine Träumerei, wie man sie in einem locker-gemütlichen Gespräch gern mal von sich gibt. Die Kleine brach in Tränen aus. Zwar war sie übermüdet, aber sie hat auch eine sehr enge Bindung zu ihrem Vater, und sie war erst wieder zu beruhigen, als ihr Papa ihr versicherte, er werde zuhause bleiben. „Papa, Du sollst nicht um die ganze Welt reisen, das ist doch viel zu gefährlich!“ beharrte das kleine, hagere Mädchen und schmiegte sich mit feuchten Augen an ihren Vater. So sind Kinder mit sechs, sieben Jahren.

Mein Vater ging nicht um die ganze Welt, er ging nur in ein anderes Bett und anschließend aus unserem Haus, aus unserem Alltag. Meine Mutter ging auch, und zwar auf die Barrikaden und anschließend in eine still-kummervolle bis anklagende Opferhaltung. So sah die Welt damals aus. Zu Beginn stritten sich die beiden. Mir kommt es im Rückblick so vor, als sei das eine Ewigkeit lang so gegangen. Immer wieder dieselbe Szene: Meine Mutter weinend, entweder am Küchentisch oder im Sofa, mein Vater schreiend und brüllend und hinterher flüchtend, die Tür hinter sich zuschlagend. Sekunden später rollte dann das Auto aus der Garage. Zeitpunkt der Wiederkehr? Ungewiss...

Mein Vater, der Betrüger, der Fremdgeher, war dann konsequenterweise auch der, der das Haus verließ. Unsere Eltern verkündeten uns das an einem Abend im Wohnzimmer. Ich erinnere mich noch deutlich, wie ich rittlings auf dem Schoß meiner Mutter saß und fürchterlich weinte. „Papa soll nicht weggehen!“ Aber er ging. Ab diesem Zeitpunkt besuchten wir ihn sonntags in einer düsteren möblierten Wohnung im fünf Kilometer entfernten Nachbarort. Das war seltsam und karg und ganz anders als zuhause. Manchmal machte er Spiegeleier. Manchmal ging er mit uns schwimmen im nahegelegenen Solebad. Aber er war nicht da. Und meine Mutter litt vor sich hin. Auch sie war nicht da. Niemand war da.

Wir gingen auf „Mutter-Kind-Kur“. Wir waren in Dangast an der Nordsee und in Rengshausen, einem winzigen Kaff irgendwo im Hessischen. Ich verbinde mit beiden Ortsnamen die pure Tristesse. Muschelwege, Stockbetten, Wassertreten... Das alles, weil es Mutter schlecht ging und Vater nicht da war. Über allem lag eine schwer zu beschreibende Gedrücktheit.

Viele Details kenne ich nur aus Erzählungen. Viel, viel später, bei einem gemeinsamen Einkaufsbummel erzählte mir meine Mutter einmal, eines Tages sei mein Vater wiedergekommen, und sie selbst sei sich gar nicht sicher gewesen, ob sie ihn zurückhaben wolle, aber dann sei meine Schwester im Nachthemd aufgetaucht und habe gebettelt, dass Papa wieder zurück kommen dürfen solle. Sie war damals neun, wie hätte sie sich etwas anderes wünschen sollen? Meine Cousine erzählte mir die Geschichte etwas anders: Meine Mutter habe meine Schwester gefragt, ob Papa wieder einziehen solle. Sie legte die Verantwortung für diese Entscheidung in die Hände ihrer ältesten Tochter, wohl wissend, dass diese nicht verneinen würde. Bei besagtem Bummel meinte meine Mutter: „Ich habe doch damals euretwegen ja gesagt, ich habe die Ehe euretwegen durchgezogen!“

Übereinstimmend sagte mir beinahe meine gesamte Verwandtschaft, sie hätten geglaubt, ich sei noch viel zu klein gewesen, um irgend etwas davon mitzukriegen. Aber ich habe eine Menge mitbekommen. Viele Annahmen, die ich erst mühsam revidieren musste: „Männer sind Arschlöcher, Frauen dagegen können nicht böse sein, niemals.“ „Männer verlassen einen zwangsläufig!“ Und gleichzeitig: „Das wichtigste ist, dass du einen Mann hast, denn ohne kannst du als Frau nicht existieren! Frau muss Opfer bringen!“ Ich finde es im Rückblick inzwischen gar nicht mehr seltsam, dass mich immer diejenigen Männer am meisten anzogen, die emotional am wenigsten verfügbar waren, sich unverbindlich gaben und keine enge Bindung eingehen wollten. Denn ich war selbst lange Zeit nie in der Lage, jemanden nah genug an mich heran zu lassen, wenn nicht die Aussicht bestand, dass er sich gleich wieder aus dem Staub machen würde. Klar war mir das natürlich nicht. Dazu hat es eine intensive Auseinandersetzung mit meiner Geschichte gebraucht. Natürlich gab es in mir einen riesengroßen Hunger nach elterlicher Zuwendung, der dann weitere Konsequenzen für mich hatte: Ich stellte meinen Vater niemals in Frage, ich verzieh ihm alles und widersprach nie, machte ihm alles recht, bettelte um seine Anerkennung und Zuneigung. Ich machte mich zu seiner Kummerkastentante, wenn er sich mal wieder bei mir über seine Affären und die Unzulänglichkeiten meiner Mutter ausließ. Für meine Mutter war ich immer die Starke, die Beraterin, erwachsener als sie selbst. Mich rief sie immer an, wenn sie in ihrer Ehe wieder mal nicht klar kam, und ebenso hartnäckig ignorierte sie meine Ratschläge. Ich glaubte, ich sei verantwortlich dafür, die Welt meiner Eltern ein Stück weit gerade zu rücken. Eine lange und für mich schädliche Geschichte, die erst jüngst ein Ende gefunden hat, weil ich es so wollte.

Inzwischen sind wir lang erwachsen, meine Schwester und ich. Meine Schwester ist immer noch die brave, vorbildliche Tochter, die für die Anerkennung der Eltern alles täte. Mutter ist immer noch nicht geschieden, leidet aber weiter. Mein Vater genießt die Vorteile einer Ehefrau, die sich alles gefallen lässt und nur zu bereitwillig übersieht, was sie nicht sehen möchte, ist sich dabei aber selber fremd. Manchmal spiele ich mit dem Gedanken, was wohl geschehen wäre, wenn sie sich tatsächlich hätten scheiden lassen. Wären sie dann beide glücklicher gewesen? Ich bezweifle es. Und wir? Auch das ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Für mich steht indessen fest: Meine Eltern hätten uns das Leben leichter machen können, wenn sie sich offen und konstruktiv mit ihren eigenen Gefühlen auseinander gesetzt hätten, sich möglicherweise beraten lassen hätten. Dazu sind sie bis heute nicht in der Lage, gefangen in der Unfähigkeit, sich selbst zu verstehen und dann den Blick fort von sich selbst auf andere zu richten. Sie sind im Grunde Kinder geblieben und haben es versäumt, erwachsen zu werden, bevor sie eigene Kinder bekamen.

2 Kommentare:

  1. Hi Brenda,
    wow, dein Post nimmt mich richtig mit! Ich habe als Kind das Gleiche erlebt, wollen wir uns austauschen?
    LG
    stefanieb.

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  2. Hallo Stefanie!

    Bitte entschuldige, dass ich Deinen Kommentar erst heute freigeben konnte. Ich hatte Probleme mit meinem Account. Es ist - bei aller Traurigkeit in unseren Geschichten - schön zu wissen, dass es andere berührt, wenn man sich das Herz zur Offenheit nimmt und erzählt.

    Ich kann leider nicht versprechen, dass ich zur Zeit zu einem intensiveren Mail-Austausch komme. Allerdings bist Du selbstverständlich jederzeit willkommen, Dich hier mit mir und anderen auszutauschen. Ich denke, es ist auch sicherlich gut, wenn mehr als zwei Menschen Anteil nehmen können, oder?

    Liebe Grüße,

    Brenda

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